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Die Freie-Zeit-Ketzer

23. Juli 2013

Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat, sagt Georg Christoph Lichtenberg. Ein ketzerischer Satz. Das Klagen über Überlastung gehört beinahe zum guten Ton. Wer hat schon Zeit zum Denken? Ist das nicht vertane Zeit?

Noch vor wenigen Jahrzehnten war der Müßiggang, die Möglichkeit, unverplante Zeit zu haben, ein Privileg der (finanziell) Bessergestellten. Zeit und Muße zum Denken, für Bildung, für Musik und Kunst hatte man erst ab einem bestimmten Stand und Einkommen. Alle anderen mussten arbeiten. Sie waren geradezu verdammt dazu.

Heute kehrt sich das in der Wahrnehmung beinahe um. Zeit haben die, die keine Arbeit haben oder die, die nicht arbeiten können. Zeit haben – manchmal – die Rentner. Alle anderen sind beschäftigt – und oft genug damit überfordert. So überfordert, dass sie mit freien Stunden oder Minuten kaum etwas anfangen können. Auch wenn darüber geklagt wird: Handys in der Straßenbahn, im Auto, im Zug gehören zur Normalität. Pendler, die häufig große Strecken fahren, nutzen diese Zeit häufig um auch dort zu arbeiten. Einfach nur im Zug sitzen und aus dem Fenster sehen oder mit dem Nachbarn reden? Wer danach fragt, erhält oft die Antwort: Das kann ich mir nicht leisten.

Immer wieder wird beklagt, dass selbst Kinder schon einen Tagespensum wie ein Manager zu bewältigen haben. Auch die Kindheit ist Lernzeit und muss sinnvoll verbracht werden.

Die Folgen des Stets-Aktiv-Seins sind bekannt: Zu viele Reize stumpfen den Menschen auf Dauer ab und führen gerade nicht dazu, dass er mehr leisten kann. Auf lange Sicht wird ein Mensch davon krank – selbst wenn er für kurze Zeit sehr viel leisten kann. Auf lange Sicht werden auch stets geförderte Kinder eher nicht in der Lage sein, die erwarteten Leistungen zu bringen. Wenn Gaben und Fähigkeiten nicht im eigenen Tempo wachsen dürfen, werden sie beschädigt, im schlimmsten Falle zerstört.

Den stets Aktiven raten Psychologen zu Entschleunigung. Aber wie kann das gestaltet werden in einer Welt, die scheinbar die dauernde Präsenz fordert, wenn man mithalten will und oft genug ja auch muss?

Für alle, die ohnehin am Rande stehen, klingt ein solcher Rat wie Hohn. Die Leere in der ungefüllten Zeit zerstört sie von innen. Viele richten sie sich auf niedrigem Niveau ein und resignieren. Was soll man denn tun in einer Gesellschaft, in der es zum System der Wirtschaft gehört, dass Menschen keine Arbeit haben?

Solange der Wert der unverplanten Zeit entweder idealisiert oder verdammt wird, solange wird sich am System kaum etwas ändern. Eine Chance bleibt eine Überprüfung der eigenen Werte. Wenn für mehr und mehr Menschen das Nachdenken, der Genuss eines freien Tages, die Schönheit eines Liedes wieder wesentlich werden, kann kann neue Lebensfreude wachsen. Und wünschen sich nicht die meisten genau das: Ein gutes, ein sinnvolles und frohes Leben leben zu können?

BR

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